Kapitel 1: Das Einhorn von Vorkoon
Schwerelos lässt sich Tobi im ruhigen Meer treiben, während Piri es sich am Strand gut gehen lässt.
Die Sonnenstrahlen werden von den sanften Wellen gebrochen. Kaum eine Wolke ist am Himmel zu sehen. Ein Sommertag wie er im Buche steht. Das Leben könnte in diesem Moment nicht schöner sein.
Die Idylle wird von einer Wolke unterbrochen, die sich vor die Sonne schiebt. Tobi blickt auf, doch die Wolke ist so schnell, wie sie aufgetaucht ist, auch schon wieder verschwunden. Plötzlich bemerkt Tobi aus dem Augenwinkel ein Funkeln am Meeresboden. Schnell taucht er unter, der Quelle des Glitzerns auf den Grund zu gehen. Doch sein eigener Schatten unterbricht die Reflektion. Seine Hände gleiten über den Meeresgrund, aber ohne die genaue Stelle erkannt zu haben, kann er es nicht finden. Zurück an der Oberfläche, versucht Tobi erneut das Funkeln zu erspähen. Da ist es. Schnell taucht er erneut ab, diesmal jedoch darauf bedacht, dass sein Schatten nicht in die Quere kommt. Er greift den Gegenstand, ohne zu erkennen, worum es sich genau handelt, und befördert sich mit einem kräftigen Schlag seiner Taucherflossen an die Oberfläche. «Mist, zu schnell aufgetaucht!» Tobis Taucherbrille verrutscht und füllt sich mit Wasser. Das Salz in den Augen trübt seine Sicht. Erfolglos versucht er zu erkennen, was er vom Meeresboden geborgen hat. «Ich muss an den Strand, so kann ich nichts erkennen», denkt sich Tobi und macht sich auf den Weg. Dabei umklammert er fest das kleine Artefakt in seinen Händen.
«Sieh dir an, was ich gefunden habe!», ruft Tobi seinem Freund zu und hält ihm den Gegenstand hin, den er gefunden hat. Piri kommt ihm besorgt und neugierig schauend entgegen und nimmt ihm den Gegenstand ab, während Tobi seine Taucherbrille abnimmt und sich das Salzwasser aus den Augen reibt. «Ist alles okay bei…?» Piri unterbricht seinen Satz mittendrin, als er auf das Artefakt in seiner Hand blickt.
«Was ist das?» fragt Piri. Nun hat auch Tobi seine Augen vom Salz befreit und sieht sich den Gegenstand genauer an. «Ist das eine Spielkarte?» fragt er. Den beiden Freunden ist nicht ganz klar, was sie hier gefunden haben.
Eine dicke Kalkschicht überzieht die vermeintliche Karte. Einige Stellen sind frei und man kann ein Bild erkennen. Es scheint mit einer Art Runen verziert zu sein. Die beiden sind sich in einer Sache einig: von der Karte scheint eine seltsame Kraft auszugehen, welche sie deutlich spüren. Ihnen ist klar, dass sie etwas Besonderes gefunden haben.
Instinktiv versucht Piri mit seinem Daumen einige Seepocken abzukratzen, die sich auf der Kalkschicht festgesetzt haben. Der Versuch scheitert jedoch kläglich an der harten Schale. Dafür bröckelt die Kalkschicht unter dem Druck des Daumens bedrohlich. Erschrocken ruft Tobi: «Hör auf! Du machst es noch kaputt.»
Erschrocken von Tobis Reaktion löst Piri den Druck von der Karte. Mit etwas milderem Ton ergänzt Tobi «Eine gute Freundin von mir kennt sich mit Restaurationen aus. Sie kann uns sicher helfen den Kalk zu entfernen». «Das kostet doch sicher ein Vermögen» nörgelt Piri und beäugt weiter neugierig den Fund. «Ach was» entgegnet Tobi «sie ist eine wirklich gute Freundin, sie macht das schon».
Die Freunde sind sich über den Vorschlag einig und stecken die Karte ein. Die letzten Stunden vor ihrer Heimreise sind angebrochen und sie versuchen, die letzten Sonnenstrahlen zu geniessen. Doch die Aufregung über den Fund lässt sie nicht mehr los. Sie können es kaum erwarten herauszufinden, worum es sich wohl bei dem Gegenstand tatsächlich handeln könnte.
Kaum am Flughafen angekommen ruft Tobi sofort Sorah an, um ihr von dem Fund zu erzählen. Sie verabreden sich noch am selben Abend.
Gesagt, getan: Nur kurze Zeit später treffen sich die drei Freunde in Sorah’s Werkstatt. Als Tobi den gefundenen Gegenstand aus seiner Tasche kramt und ihn Sorah zeigt, hört man sie nach Luft schnappen. «Wo zur Hölle hast du das her?»
Tobi erklärt ihr, was am Strand geschehen ist. Sorah’s Finger gleiten aufgeregt über die Spielkarte. Sie betrachtet sie ausgiebig von allen Seiten. «So etwas habe ich noch nie gesehen.» Auch Sorah versucht mit ein paar kurzen Handgriffen die Seepocken zu entfernen, doch scheitert am gleichen Problem wie Piri. Sie zieht die Augenbrauen zusammen und meint: «Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, bis ich den Kalk und die Pocken gelöst habe.» Die deutlich spürbare Spannung kippt in Enttäuschung, als ihnen klar wird, dass sie noch einen weiteren Tag in Ungewissheit ausharren müssen. «Ich werde mein Bestes geben!» fügt Sorah mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, als sie die enttäuschten Gesichter ihrer Freunde bemerkt. «Euer Artefakt wirkt sehr zerbrechlich und wird mir einiges abverlangen. Aber seid euch sicher, ich kriege das hin».
Nach kurzem Smalltalk über die Ferien verabschieden sich die Freunde und gehen. Ganz im Vertrauen, dass Sorah die Karte restaurieren kann, und sie schon morgen mehr darüber erfahren werden.
Als Sorah wieder allein in ihrer Werkstatt ist, mustert sie die Karte nochmals und spürt die Aura welche diese Karte umgibt. Noch in derselben Nacht beginnt sie, die Karte von der dicken Kruste zu befreien. Mit Skalpell und Pinzette bewaffnet, löst sie eine Seepocke nach der anderen. Von den hartnäckigen Krebstierchen befreit, nimmt sie die Karte wieder in die Hand und fährt mit den Fingern über die freien Stellen, wobei sie etwas zu spüren glaubt. «Die Karte lebt!» murmelt sie erschrocken. Sorah’s Finger nehmen einen feinen Puls auf einer der Runen wahr. Sie untersucht die Stelle weiter. Nicht sicher, was sie da gerade fühlt, gleiten ihre Finger immer und immer wieder über die Rune auf der Karte und plötzlich spürt sie, wie sich etwas unter ihrem Finger bewegt. Erschrocken will sie die Hand zurückziehen, doch sie gehorcht ihr nicht. Wie fremdgesteuert fährt sie weiter der Kontur entlang.
Die Karte beginnt zu leuchten und wird immer heller und heller. Gleissendes Licht erhellt die Werkstatt. Sorah kann sich nicht mehr bewegen. Die Zeit scheint für einen Moment still zu stehen. «Was passiert hier gerade?!» Erschrocken blickt sie in das Licht, worin auch ihre Hand verschwindet. «MEINE HAND!», schreit sie erschrocken.
Reflexartig lässt sie die Karte los, doch sie bleibt an Ort und Stelle. «Warum fällt sie nicht runter?». Sorah’s Gedanken rasen und Adrenalin pumpt durch ihre Adern. Die weit geöffneten Augen wollen sich instinktiv vor dem gleissenden Licht schützen, doch auch sie gehorchen nicht. Sie starrt weiter in das Licht. Mittlerweile ist alles um sie herum hell erleuchtet. Nicht einmal mehr die Konturen der Werkstatt sind auszumachen. Etwas bewegt sich im Licht. Sorah verspürt den Drang zu fliehen, doch kann sie sich nicht bewegen. Und dann passiert alles ganz schnell, aus dem schemenhaften Wesen wird eine deutlich erkennbare Gestalt, die sich auf sie zubewegt und nach nur wenigen Sekunden direkt vor ihr steht. Sorah versucht um Hilfe zu rufen, aber sie bewegt lediglich die Lippen, ohne einen Ton hervorzubringen. Ein riesiger Pegasus, ganz und gar aus weissem Licht bestehend, steht vor ihr.
Er neigt den Kopf zu Sorah, da erkennt sie ein mächtiges Horn auf seiner Stirn «Ein Cerapter» schnappt Sorah. Ihre Gedanken rasen. «Hau ab!» schreit es in ihrem Kopf. Und diesmal gehorcht ihr Körper. Sie dreht sich um und rennt in Richtung Tür. Erst da fällt ihr auf, wie gross dieses Tier ist. Mit seinem Hinterlauf versperrt der Pegasus die Tür. Panik überkommt Sorah. Sie dreht sich um und schaut zu dem kleinen Fenster, welches sich über der Werkbank befindet. Doch dieses Wesen aus Licht füllt praktisch den ganzen Raum aus. Plötzlich geht alles so schnell und Sorah bleibt keine Zeit um zu reagieren. Während nur eines Wimpernschlags dreht sich dieses mächtige Wesen zu ihr um. Auge in Auge stehen sie sich gegenüber. Vor Angst erstarrt und vom Licht geblendet schliesst Sorah ihre Augen. Dann spürt sie einen feinen Druck auf ihrer Schulter und öffnet die Augen ganz vorsichtig. Das Wesen hat sie leicht angestupst. Es schiebt Sorah sanft zu seinen Vorderbeinen. Sorah glaubt es kaum: der Pegasus geht in die Knie und dreht seine breite Schulter leicht zu ihr. Ungläubig stottert sie «Soll ich da etwa aufsteigen?» Doch diese Entscheidung wird ihr sofort abgenommen. Das Wesen wirft sie mit einem Ruck auf sein Rücken und richtet sich im gleichen Zug wieder auf. Sorah findet keinen Halt und rutscht über den Rücken. Sie greift nach seinen Flügeln und kann sich gerade noch festhalten. Noch völlig verwirrt und ohne jede Ahnung, was da eigentlich gerade geschieht, sieht Sorah wie der Pegasus mit seinem Huf den Boden berührt und sich ein dunkler Kreis öffnet. Ein gewaltiger Ruck überkommt Sorah und sie hält sich mit aller Kraft an einem Flügel fest, um nicht davon geschleudert zu werden. Das Wesen aus purem Licht springt durch den Kreis und versinkt mit Sorah auf seinem Rücken in völliger Dunkelheit.
Komplett überrumpelt von der Situation und noch immer mit der Angst im Nacken schaut sich Sorah um. Doch wie sehr sich auch bemüht, sie kann nichts erkennen, um sie herum nur völlige Dunkelheit. Einzig der Pegasus leuchtet von innen heraus. Sie kann nichts erkennen. Sie spürt, wie der Pegasus im Galopp vorwärts prescht, aber wie schnell oder gar wohin, dafür gibt es keine erkennbaren Anhaltspunkte. Ihr fällt auf, dass sie noch immer völlig quer auf dem Rücken des Pegasus liegt und den Flügel fest umklammert. Sie versucht, sich etwas aufzurichten und rutscht weiter nach vorne in Richtung Hals. Jetzt hat sie wenigstens einen etwas besseren Überblick und ihr fällt auf, dass sie nicht einmal einen Boden in der wabernden Dunkelheit erkennen kann. «Fliegen wir?» Nein, die Flügel sind angelegt, erklärt sich Sorah selbst in Gedanken. «Wohin bringst Du mich?» fragt sie leicht vorgebeugt in Richtung Kopf des Tieres. Der Pegasus schüttelt seine Mähne und Sorah muss sich, überrascht von der direkten Reaktion, festhalten. «Das nenn ich mal eine Antwort» flüstert Sorah enttäuscht. Sie mustert das Wesen etwas genauer. Es besteht wirklich aus reinem Licht. Wie kann das sein? Es fühlt sich doch fest an. Sie stupst mit dem Finger in die Mähne, um sich selbst nochmal davon zu überzeugen. Die Reaktion kommt prompt. Wieder schüttelt der Pegasus seine Mähne, doch dieses Mal deutlich fester. Sorah klammert sich an ihm fest. Aus dem Augenwinkel glaubt sie für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln auf dem Gesicht des Gauls zu erkennen. Ein Teil ihrer Angst kippt in Wut um. «Was fällt dir ein?!» faucht sie in seine Richtung. Der Pferdekopf dreht sich etwas zu ihr und nun ist sie sich ganz sicher, dass er grinst. «Was stimmt denn mit dir nicht?» entgegnet sie ihm, noch immer erschrocken über seine Reaktion. Da sieht sie in der Ferne einen verschwommenen Lichtpunkt. Sie kann nicht genau erkennen, was es ist. Sie merkt nur, dass sie anscheinend genau darauf zureiten, denn der Punkt kommt rasend schnell näher.
Endlich wird klar, woher das Licht kommt. Vor Ihnen steht eine Frau, gekleidet in eine Rüstung. Und auch sie besteht ganz und gar aus reinem Licht. Noch bevor Sorah mehr erkennen kann, Stopp der Pegasus so abrupt und ohne jede Vorwarnung, dass sie keine Chance hat sich zu fangen und in die Tiefe fällt. Im ersten Moment steigt Panik in ihr auf, da sie nicht weiss, wie hoch über der Erde sie sich befindet. Doch es dauert nicht lange und sie knallt hart auf dem Boden auf, sodass es ihr die Luft aus der Lunge presst. Sie keucht vor Schmerzen. Noch völlig benommen von ihrem Fall sieht sie nach oben. Wieder grinst der Gaul sie hämisch an. Sie möchte ihn laut ausschimpfen, doch ihr fehlt die Luft dazu und so bleibt es bei einem äusserst giftigen Blick.
Ihre Aufmerksamkeit wandert zu der Frau in der Rüstung, welche direkt vor Ihr steht. Das einzige Licht, das es an diesem Ort zu geben scheint, stammt von ihr und diesem unsäglich frechen Pegasus. Nur komisch ist, dass sie keinen Lichtkegel werfen. Sorah stützt sich vom Boden ab und rappelt sich auf. Ihr Blick streift noch einmal über ihre Umgebung, doch sie kann um sie herum nichts in der Dunkelheit ausmachen. Die fremde Frau streicht mit der Hand sanft über das Gesicht des Pegasus und man sieht ihm an, wie es ihm gefällt. «Ich freue mich so, dich wieder zu sehen, mein treuer Freund» flüstert die fremde Frau in das Ohr des Tieres.
«Wer bist du? Und was ist hier gerade passiert?» platzt es aus Sorah heraus. Die fremde Frau hält inne und die Miene des Wesens zeigt eindeutiges Missfallen darüber, dass Sorah die Streicheleinheiten mit ihrer Frage unterbrochen hat. Die Frau in der Rüstung lächelt «Sei gegrüsst, ich habe dich bereits erwartet. WIR warten schon lange darauf das sich jemand deinesgleichen auf den Weg in unsere Welt macht».
Sorah sieht sie verwirrt an. «Du hast auf mich gewartet? Wozu denn?». «Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Lass mich versuchen, es dir zu erklären». Mit einer ausholenden Geste beginnt sie «Ich bin Hohepriesterin der Renischen und Oberstes Mitglied im Rat der Nation des Lichts. Der Ort, an dem wir uns hier befinden, ist die Welt Vorkoon» beginnt sie ihre Erzählung und deutete auf alles um sich. «In dieser Welt leben mehrere Nationen, alle mit ihren eigenen und ganz besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten. Sie teilen sich diese Welt und leben in Frieden. Naja… so sollte es eigentlich sein». Ihre Miene verfinstert sich und das Licht, das sie umgibt, beginnt leicht zu flackern. Mit gesenkter und doch energischer Stimme presst sie hervor: «Es herrscht Krieg.»
Sorah zuckt leicht zusammen. So bedrohlich hat die fremde Frau diese Worte ausgesprochen. «Durch den Krieg, in dem sich all diese Nationen gegenseitig bekämpfen, steht die Ausrottung einiger von ihnen kurz bevor».
Die fremde Frau macht eine Pause, ihr scheint das Sprechen schwer zu fallen. Sorah geht einen Schritt auf sie zu und will die Hand nach ihr austrecken, da geht der Pegasus dazwischen. «Schon gut mein Cerapter». «Stimmt ja! Der Gaul ist kein Pegasus» blitzt der vergessene Gedanke aus der Werkstatt durch Sorah’s Kopf. Besänftigend legt die Frau ihre Hand auf das mächtige Horn des Wesens. Wieder wendet sich die Frau an Sorah «Du musst verstehen, wir haben uns sehr lange nicht gesehen und er ist mein treuester Diener. Er will nicht, dass wir wieder getrennt werden». Sorah nickt und geht einen Schritt zurück. Erneut lächelt die Frau liebevoll. Sorah schaut sie fragend an «Ihr habt also Krieg in dieser Welt?»
Bevor Sorah eine Antwort erhält, greift die Frau in ihr Gewand und holt ein Fläschchen hervor. Es scheint, als wären tausende von Glühwürmchen darin gefangen, so hell leuchtet es. Die Frau nimmt einen Schluck aus dem Fläschchen und fährt fort «Ja, der Krieg. Wir, der Rat des Lichts, konnten uns das nicht länger mit ansehen und haben einen Pakt mit den Fürsten der Dunkelheit abgeschlossen. Der Rat des Lichts hat dieser Welt alles Licht entzogen und daraufhin füllten die Fürsten der Dunkelheit unsere Welt mit dem Nichts. Diese Entscheidung fiel uns unsäglich schwer, doch nur so waren wir gemeinsam in der Lage, die Zeit in Vorkoon anzuhalten und dem Krieg vorübergehend Einhalt zu gewähren.» erklärt die Hohepriesterin. «Dieses Ritual ist sehr mächtig und hat all unsere Kraft in Anspruch genommen. Über die Jahrhunderte sind die Ratsmitglieder und Fürsten nach und nach durch Erschöpfung in Ohnmacht gefallen. Wie alle anderen Wesen unserer Welt sind sie nun gefangen. Ich bin die letzte dieser kräfteraubenden Zeremonie. Doch auch ich bin erschöpft und mit meiner Kraft bald am Ende.»
Sorah ergreift ein beklemmendes Gefühl. Irgendwie kann sie nachfühlen, was die Hohepriesterin gerade durchmacht und wie ausweglos ihre Situation ist. «Was kann ich tun?» fragt Sorah. «Da du uns gefunden hast, ist der erste Schritt schon gemacht. Ich brauche nun viel Kraft, damit wir mehr Zeit gewinnen, den eigentlichen Plan umzusetzen». Sorah zieht ihre Augenbrauen fragend nach oben. «Was nützt es uns, die Zeit anzuhalten, wenn sich nichts ändert? Ich habe meinen treuesten Diener, meinen Cerapter, losgeschickt, um in der Menschenwelt nach Hilfe zu suchen, damit wir eine Chance haben, den Frieden wiederherzustellen». Die Hohepriesterin keucht und schnappt nach Luft. Das Reden fällt ihr zunehmend schwerer. Noch einmal greift sie nach dem Fläschchen und trinkt daraus. Doch dem Gesichtsausdruck nach scheint es nicht die erhoffte Wirkung zu haben. «Bitte begleite mich und meinen Cerapter zum Garten der Reinheit. Dort haben Krieger der Dunkelheit ein Artefakt versteckt, welches dir helfen wird, wieder in deine Welt zurückzukehren um Hilfe zu holen».
Kaum den Satz beendet, erscheint ein heller Lichtblitz an der Stelle, an der soeben noch die Hohepriesterin gestanden hat und lässt einen schwach leuchtenden Ball aus Licht zurück. «Mist, ich habe meine Gestalt verloren, viel Zeit habe ich nicht mehr» hört Sorah eine Stimme in ihrem Kopf. Verwirrt darüber, antwortet Sorah laut «Ich werde mich beeilen». «Du musst nicht sprechen, ich kann deine Gedanken lesen, so wie du die meinen hörst».
Sorah schluckt erschrocken und fühlt sich ihr irgendwie ausgeliefert. «Keine Angst ich kann deine Ängste verstehen und es tut mir auch leid, dass ich dich um all das bitten muss, aber die Umstände…». «Schon gut» unterbricht Sorah die Hohepriesterin. Sie fasst sich ein Herz und schaut dem Cerapter direkt in die Augen «Gehen wir!»
Endlich sind sich die beiden einmal einig. Der Cerapter dreht sich ohne zu zögern um, geht in die Knie und lässt Sorah aufsteigen. Noch nicht ganz oben angekommen, richtet er sich schon auf und beginnt zu traben. «Du machst das doch mit Absicht» denkt Sorah und wirft dem Gaul einen bösen Blick zu. Die Lichtkugel hat sich ebenfalls in Bewegung gesetzt und schwebt nun neben Sorah’s Kopf.
«Er ist sehr eigenwillig Fremden gegenüber» entschuldigt sich die Hohepriesterin bei Sorah. «Er ist einfach eine Zicke, mehr nicht!» ergänzt Sorah in Gedanken, ohne es auszusprechen. Darauf beginnt der Cerapter zu bocken und zu springen. Im letzten Moment kann sich Sorah in der Mähne festkrallen. «SCHLUSS DAMIT» donnert die Stimme der Priesterin durch die Köpfe der beiden. Sofort lässt der Pegasus von den Kapriolen ab.
«Echt jetzt, er kann meine Gedanken ebenfalls hören?» fragt Sorah schockiert. «Ja wir kommunizieren fast nur über Gedanken. Wir, das Volk der Renischen lieben die Stille. Doch nicht jede Nation kommuniziert so. Einige sprechen alles aus und verstehen die Gedanken anderer nicht» erklärt ihr die Frau. Die Stimme der Priesterin hört sich dabei wieder etwas entspannter an. So reiten sie ohne ein Wort durch die ewige Dunkelheit und Stille.
Die Lichtkugel schwebt vorbei an Sorah’s Gesicht, hin zum Cerapter. «Warum hast du so lange gebraucht, mein treuer Diener?»
Er dreht den Kopf ein wenig zu ihr hin und wiehert ganz leise. Die Priesterin scheint zu verstehen, was ihr Diener erzählt. Die beiden unterhalten sich eine ganze Weile, dann nimmt die Lichtkugel wieder die Position neben Sohra’s Kopf ein und erklärt, ohne dass Sorah fragen muss. «Er hatte auf der Erde einen Unfall. Du musst wissen, dass das, was für euch normale Naturgewalten sind, bei uns einzelne Völker verkörpern. Ich konnte nicht vorhersehen, was alles geschehen kann. Der Cerapter wurde beim Überfliegen des Meeres von einem gewaltigen Blitz getroffen und sehr schwer verwundet. Mit letzter Kraft hatte er es geschafft, sich in seiner Ursprungsgestalt, der Schöpferkarte, zu versiegeln und sank dann auf den Meeresgrund». «Was ist eine Schöpferkarte?» fragte Sorah dazwischen. «Wir, die Bewohner von Vorkoon können einen Teil unserer Kraft in einer magischen Trägerkarte speichern und so neue Lebewesen erschaffen. So ist auch mein treuer Diener entstanden». «Ach so, verstehe, und da die Magie vom Blitz gestört wurde, musste er sich zurückziehen?» fragt Sorah weiter. «Nicht ganz, es gibt Elemente auf der Erde, welche uns verletzen können. Ein Blitz ist eines davon. In der Karte kann sich die Magie zurückziehen und heilen, aber sie kann sich selbst nicht wieder heraufbeschwören. Dafür braucht es ein Ritual, welches von aussen abgehalten wird. Nur so kann man die Magie im Inneren wieder befreien» korrigiert sie die Stimme der Priesterin. «Die Stärke der eingeschlossenen Magie und die mentale Stärke des Individuums, welches das Ritual ausführt, sind entscheidend, ob die Magie befreit werden kann. Aber wie gesagt, es hätte nicht so weit kommen dürfen, es war ein Unfall». Gedankenversunken geht Sorah im Kopf noch einmal durch, was Tobi und Piri ihr über den Fundort erzählt hatten. «So ist das also gewesen» unterbricht die Stimme der Priesterin Sorah’s Gedanken.
Sorah zuckt zusammen. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass die anderen ihre Gedanken mit anhören können. «Ja» antwortet Sie. «Welches Jahr habt ihr auf der Erde?». «2022» Die Priesterin macht Geräusche, die an ein Keuchen erinnern. «So viele Zeit» seufzt sie. «Warum, wann ist denn der Unfall passiert?» fragt Sorah. «Vor rund 200.000 Jahren». Die Antwort hat Wirkung. Sorah schaut die Lichtkugel neben ihrem Kopf fassungslos an. Sie empfindet grosses Mitleid mit dieser Frau und dieser Welt. Denn wenn all das stimmt, was sie gesagt hat, dann müssen so viele Wesen schon unsäglich lange in dieser ewigen Dunkelheit leiden. «Noch ist es nicht zu spät! Wie ich schon sagte, haben wir dadurch, dass wir der Welt das Licht entzogen haben, die Zeit anhalten können. Somit ist hier seither nichts mehr geschehen.» erklärt die Priesterin weiter, als sie das fassungslose Gesicht von Sorah bemerkt. «Wir sind bald da».
Den Rest des Weges verbringen sie in Stille und Dunkelheit. Plötzlich bremst der Cerapter abrupt, Sorah rutscht wieder quer über seinen Rücken, doch dieses Mal kann sie sich schon besser auffangen. So langsam bekommt sie Übung. Sie kommt direkt an seinem Hals zum Stillstand und die beiden werfen sich einen geringschätzigen Blick zu, doch Sorah nimmt keine Rücksicht darauf und lässt sich selbstsicher in die Dunkelheit fallen.
Die Lichtkugel schwebt vor ihren Füssen und dieses Mal wirft sie sogar einen kleinen Lichtkegel auf den Boden. «Ist das der Garten der Reinheit, von dem du gesprochen hast?» fragt Sorah die Priesterin. «Noch nicht ganz, aber wir sind schon ganz nah. Wir müssen noch durch diesen Wald. Er schützt den Garten der Reinheit wie ein Wall. Der Wald ist so dicht, dass wir zu Fuss weitermüssen. Der Cerapter wird hier auf uns warten. Er würde sich beim Betreten in die Schöpferkarte zurückverwandeln und mir fehlt gerade die Kraft, ihn wieder zu beschwören. Aber keine Sorge: du hast nichts zu befürchten. Anders als die Bewohner dieser Welt kannst du hier nicht sterben oder dich verwandeln. Wenn du im Kampf fallen solltest, wird dein Geist wieder in deinem Körper auf die Erde zurückkehren. Verstehst Du? Du bist nicht physisch in dieser Welt. Es ist nur dein Geist». «Im Kampf?» fragt Sorah entsetzt «Sind denn Feinde hier?» «Nein, wir sind allein» beruhigt die Priesterin Sorah. «Aber nun komm, die Zeit drängt». Der Lichtball führt Sorah einen Weg entlang, wobei das Licht dabei schon so schwach ist, dass Sorah kaum noch erkennen kann, wo sie mit ihren Füssen hintritt. Und da geschieht es auch schon; sie fällt. «Was war das denn?» ruft Sorah genervt. Die Kugel bleibt mit einem leichten Stöhnen stehen und beginnt wenige Sekunden später zu vibrieren. Darauf erleuchtet der schlecht gepflasterte Waldweg. Sofort sieht Sorah, dass sie nur über eine Baumwurzel gestolpert ist. «Bitte folge mir jetzt weiter» drängt die Priesterin sie.
Die beiden folgen dem Weg und gelangen zu einem Garten, vor dessen Eingangstor sie stehen bleiben. Bevor Sorah fragen kann, beginnt die Priesterin zu sprechen: «Das hier ist ein heiliger Ort der Pflanzennation: Hier findest Du das Artefakt der Dunkelheit, welches wir benötigen. Seit dem Krieg wird es hier aufbewahrt. Du musst wissen, dass nur reine Seelen mit natürlichem Ursprung und ohne jemals getötet zu haben, diesen Ort ohne Gefahr betreten können». Die Lichtkugel umkreist Sorah nervös und fragt direkt: «Hast du jemanden getötet in deiner Welt?». «WIE BITTE?»
Von der direkten Frage etwas überrumpelt antwortet Sorah in einem zweiten Anlauf «Nein, ich habe noch nie jemanden getötet!» «Sehr gut, dann folge mir»
Noch einmal beginnt das Licht der Priesterin zu vibrieren, es erhellt nun den ganzen Garten. Sorah’s Atem stockt. Noch nie hat sie so etwas wundervolles gesehen. «Ein echter Garten der Reinheit eben. Ist wohl der erste, den du siehst, oder?» fragt die Priesterin, welche ihre Gedanken amüsiert mithört. Sorah ist so beschäftig sich umzusehen, dass sie glatt vergisst, die Antwort auszusprechen.
«Ich weiss, wo es sich befindet, komm mit»
Mit der staunenden Sorah im Schlepptau wandert das Licht der Priesterin durch das Tor. Sorah macht den ersten Schritt in den Garten und etwas seltsames geschieht: dort, wo ihr Fuss aufsetzt, beginnt es grünlich zu schimmern und ein wohlriechender Duft von frischem Holz und Blumen breitet sich in der Luft um sie herum aus. Überrascht über das Geschehen meint die Priesterin «Oh, du trägst das Mal der Flora in dir». «Was geschieht hier gerade?» erkundigt sich Sorah. «Jeder Mensch trägt von Natur aus ein Mal in sich, welches über Generationen weitergegeben wird. Wie ich dir schon erzählt habe, ist dies ein heiliger Ort der Mievara. So nennt sich das Volk der Pflanzen, wie ihr es ausdrücken würdet. Dein Mal ist somit das Mal der Mievara». Sorah holt Luft, um die Frage zu stellen, welche ihr gerade auf der Zunge brennt. Doch die Priesterin unterbricht sie «Wir müssen weiter, lange halte ich nicht mehr durch. Ich bitte dich. Dein Mal wird im Moment keinen Einfluss auf das Geschehen haben und ich erkläre dir später gerne, was es damit auf sich hat! Aber da ist noch etwas: ich kann das Diadem der Dunkelheit selbst nicht berühren». Sorah nickt stumm. In ihrem Kopf ist ein Gewirr aus Fragen, auf welche sie noch keine Antworten hat. Doch sie will der Priesterin nicht noch mehr abverlangen und versucht in Gedanken zu schweigen. «Hm… wie geht das eigentlich?» fragt sie sich. Die Priesterin hält kurz inne «Deine Gedanken schreien förmlich» meint sie. «Versuch, dich auf den Weg, den du gehst, die Luft die du atmest und auf deinen Herzschlag zu konzentrieren. Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt und versuche, die Zukunft und die Vergangenheit für einen Moment auszublenden. So wird es ruhiger in deinem Kopf – und somit auch in meinem». Sorah versucht wie ihr aufgetragen, Ruhe in ihre Gedanken zu bekommen.
Sie gehen schweigend weiter durch den Garten, bis sie zu einem riesigen Baum gelangen. Orange leuchtende Früchte zieren sein wunderschönes Blattwerk. Beim Betrachten fühlt sich Sorah wie in einem Traum. Ein schläfriges Gefühl breitet sich in Ihr aus. «Kämpf gegen den Schlaf an, das ist das Diadem der Dunkelheit». Sorah hört die Stimme nur noch ganz leise in Ihrem Kopf. «SORAH, wir sind da!» Erschrocken schüttelt sie den Kopf. «Was ist denn?» fragt sie etwas benommen. «Du musst gegen den Schlaf ankämpfen, das macht das Diadem der Dunkelheit» warnt sie die Stimme der Priesterin erneut. «Hör mir jetzt gut zu. Nimm das Diadem und dann renn so schnell, wie du nur kannst aus dem Garten, durch das Tor, durch den Wald hin zu meinem Cerapter. Du hast es geschafft, meinen Cerapter aus der Karte zu befreien. Genauso befreist du auch das Diadem. Suche Dir auf der Erde einen sicheren Ort und dann ziehe es an. In dem Moment, wo Du es anlegst, wirst Du wieder hier in dieser Welt erscheinen. Bitte gib deinem Volk Bescheid, dass wir ihre Hilfe dringend brauchen. Komm so schnell du kannst wieder zurück, wenn du dich erholt hast… und nun geh!» Komplett überfordert von diesem Informationsfluss, steht Sorah noch immer schläfrig da. Da bewegt sich das Licht der Priesterin erneut. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und nimmt ihre menschliche Gestalt noch einmal an. Die Mühe, welche ihr die Transformation bereitet hat, ist ihr deutlich anzusehen.
Mit ihren Händen packt sie Sorah an den Unterarmen und führt sie zu dem Diadem. «Nimm es!» fordert die Priesterin sie mit Nachdruck auf und klingt dabei immer verzweifelter. Instinktiv greift Sorah nach dem Artefakt und rennt so schnell sie kann.
«Was mache ich hier gerade?» scheisst es ihr durch den Kopf. Doch sie kann vor Müdigkeit den Gedanken nicht halten und er entgleitet ihr wieder. Sie muss sich zusammenreissen und rennt weiter. Sie läuft durch das Tor und den engen Waldweg hinunter. Dieser ist noch immer erleuchtet, und doch umgeben von der totalen Dunkelheit. Sie kann ihn gar nicht verfehlen.
Als der Cerapter Sorah mit dem Diadem in den Händen auf sich zu taumeln sieht, galoppiert er ihr entgegen. Sorah sieht, wie er immer schneller wird und bevor Sorah versteht und reagieren kann, durchbohrt das mächtige Horn ihren Bauch. Der Cerapter wiehert laut auf und es wird dunkel. Sehr dunkel. Ihre Augen schliessen sich.
Sorah schlägt die Augen wieder auf. Panisch greift sie sich mit der rechten Hand an den Bauch. «Was zur Hölle ist hier gerade passiert» murmelt sie und richtet sich auf. «Wieso kann ich keine Verletzung fühlen? Aber das Pferd hat mich doch…» Sie bricht den Gedanken ab und sieht sich um. «Wo bin ich hier?» Um sie herum stehen mehrere Betten, keine Spur von ihrer Werkstatt. Erst langsam erkennt sie, dass sie in einem grossen weissen Zimmer aufgewacht ist. «ICH BIN IN EINEM KRANKENHAUS». Sorah’s Gedanken explodieren förmlich. Sie lässt sich ins Bett zurückfallen und schliesst für einen kurzen Moment die Augen. «Was ist hier nur los, ich verstehe das nicht». Ihre rechte Hand wandert von ihrem scheinbar unverletzten Bauch an ihre Stirn. «Habe ich Fieber? Habe ich das alles nur geträumt?» Aber was ist das in ihrer linken Hand? Sie betrachtet den Gegenstand, den ihre Finger fest umklammert halten und erkennt eine Karte. Eine Karte mit dem schwarzen Diadem. Sorah’s Sinne schwinden und es wird wieder Dunkel.